LSBTI*-Personen werden erstmals in der nicht abschließenden Aufzählung der EU-Aufnahmerichtlinie explizit als Personen mit besonderen Bedarfen aufgezählt. In den „Mindeststandards zum Schutz geflüchteter Menschen in Flüchtlingsunterkünften“ sind ihre besonderen Bedarfe im Annex 1 abgedeckt, sie finden außerdem Erwähnung in allen bislang veröffentlichten Gewaltschutzkonzepten der Bundesländer. Während viele Angehörige sexueller und/oder geschlechtlicher Minderheiten nicht die in Deutschland geläufigen Selbstbezeichnungen kennen oder verwenden, sind hier alle Personen mitgemeint, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität von den heteronormativen Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft abweichen. LSBTI*-feindliche Gewalt ist somit auch als geschlechtsspezifische Gewalt zu verstehen.
ASYLVERFAHREN
Die Mehrheit der Asylerstantragstellenden in Deutschland stammt aus Ländern, in denen im Gesetz Haftstrafen oder sogar die Todesstrafe für einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Erwachsenen vorgesehen sind. Häufig geht dies mit einer gesellschaftlichen Wahrnehmung gleichgeschlechtlicher Sexualität als krankhaft oder sündhaft einher. Die Kriminalisierung von LSBTI*-Identitäten und Lebensweisen schlägt sich nicht nur in möglichen Freiheitsstrafen nieder, sondern ermöglicht überdies eine Reihe spezifischer LSBTI*-feindlicher Gewaltformen.
Diese können durch rechtliche und kulturelle Normen legitimiert oder gar gefördert werden und gehen häufig auch von nichtstaatlichen Akteur*innen aus – in vielen Fällen von der eigenen Familie oder dem direkten Umfeld. Sie umfassen homo- und transfeindliche Beleidigung und Bedrohung, Schutzgelderpressung, den Zwang zu einem möglichst heteronormativen
Leben (beispielsweise durch Zwangsverheiratung), massive Ausgrenzung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, psychische, physische und sexualisierte Gewalt, sowie Folter und Mord. Vor allem transgeschlechtlichen Personen werden medizinische Eingriffe wie Zwangssterilisation aufgezwungen, oder aber ihnen wird medizinische und psychologische Versorgung verweigert. Um die möglichen Vorerfahrungen LSBTI*-Geflüchteter und die daraus resultierenden Bedarfe bestmöglich einzuschätzen, ist es wichtig zu wissen, dass innerhalb einer Gesellschaft oder eines Staates unterschiedliche Identitäten durchaus unterschiedliche Formen der Stigmatisierung und Kriminalisierung erleben. Beispielsweise kann im Iran für einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen die Todesstrafe verhängt werden, während die Identität transgeschlechtlicher Personen grundsätzlich rechtlich anerkannt wird. Dies geschieht im Iran allerdings unter dem Vorbehalt, dass chirurgische Maßnahmen vorgenommen werden, und schützt im Nachgang keineswegs vor gesellschaftlicher Verfolgung und Gewalt. Geschlechtsverändernde Maßnahmen, die gegen den Willen der Betroffenen durchgeführt werden, stellen eine Verfolgungshandlung dar.
GEWALTSCHUTZ
Viele LSBTI*-Personen, die in ihrer Aufnahmeeinrichtung als solche sichtbar geworden sind, berichten von verbaler und/oder körperlicher Gewalt. Die Vorfälle reproduzieren oftmals die LSBTI*-spezifische Verfolgung, die die Betroffenen womöglich bereits vor beziehungsweise auf ihrer Flucht erlebt haben. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen und der Aussicht, bis zu 24 Monaten in Sammelunterkünften verweilen zu müssen, entscheidet sich die Mehrheit der dort untergebrachten LSBTI*-Personen, ihre Sexualität bzw. geschlechtliche Identität geheim zu halten. Gleichzeitig hält sich in Aufnahmeeinrichtungen zu jedem Zeitpunkt potenziell eine signifikante Anzahl an Personen auf, die eine LSBTI*-feindliche Haltung mitbringen oder sogar gewaltbereit gegenüber LSBTI*-Personen eingestellt sind. Dabei kann es sich sowohl um Bewohner*innen (einschließlich der eigenen Familie) als auch um Mitarbeitende handeln. Deshalb setzen sehr viele LSBTI*-Geflüchtete ihre Unsichtbarkeit als bewusste Schutzstrategie ein und melden selbst Gewaltfälle innerhalb der Einrichtung nicht.
Diese Zurückhaltung bei der Anmeldung besonderen Schutzbedarfs sowie der Meldung tatsächlicher Gewalt hat drastische Folgen sowohl für Gewaltprävention und -intervention als auch für das Asylverfahren selbst.
GESUNDHEITLICHE VERSORGUNG
Neben den Folgen schwerer psychischer und körperlicher (oft auch sexualisierter) Gewalt liegen oft besonders bei transgeschlechtlichen Personen spezifische gesundheitliche Problemlagen und Versorgungsbedarfe vor. Ein Beispiel hierfür sind Personen, denen eine Transition und Personenstandsänderung im Gesundheitssystem ihres Herkunftslandes verweigert wurden und die deshalb ohne medizinische Supervision begonnen haben, Medikamente/Hormonpräparate einzunehmen. Ein anderes Beispiel sind Personen, denen medizinische Eingriffe aufgrund ihrer sexuellen Orientierung/geschlechtlichen Identität aufgezwungen wurden, unter deren Folgen sie körperlich und psychisch leiden.
IDENTIFIZIERUNG, SENSIBLE ANSPRACHE UND UMGANG
Schutzsuchende LSBTI*-Personen sind häufig nicht nur mit einer dreifachen Stigmatisierung als krank, sündhaft und kriminell aufgewachsen, ihnen fehlen mitunter auch positive (oder neutrale) Selbstbezeichnungen, die an deutsche Identitätskonzepte anknüpfen. Wählen Sie daher im Gespräch möglichst offene Formulierungen, die deutlich machen, dass Sie sexuelle/geschlechtliche Vielfalt mitdenken. Behalten Sie ein offenes Ohr für Andeutungen oder Umschreibungen. Die schutzsuchende Person ist Expert*in für die eigene Lebensrealität – greifen Sie nicht korrigierend ein bei Erzählungen, die Ihren Vorstellungen von Identität widersprechen (z. B. bei Personen, die ihre eigene Sexualität selbst pathologisieren oder auf eine Missbrauchserfahrung im Kindesalter zurückführen). Konzentrieren Sie sich auf die Aspekte, die für die Umsetzung der erforderlichen Schutzrechte relevant sind.
Schaffen Sie in Ihrem Beratungsraum Sichtbarkeit für das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt. Zeigen Sie durch Poster und Symbole (e.g. Regenbogenflagge), dass sie für das Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt offen und ansprechbar sind. Achten Sie bei Ihrer Ansprache darauf, möglichst keine Identitäten auszuschließen. Sprechen Sie beispielsweise von Beziehungspersonen statt nach Ehepartner*innen zu fragen.
Gehen Sie nicht davon aus, dass Sie einer schutzsuchenden Person die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität ansehen können, und hinterfragen Sie aktiv eigene Vorstellungen sexueller/geschlechtlicher Vielfalt, die von Stereotypen geprägt sein können. Auch verschiedengeschlechtlich verheiratete Personen, Personen, die im Familienverbund (etwa als Eltern oder Kinder) eingereist sind sowie unbegleitete Minderjährige können einen LSBTI*-Schutzbedarf haben. Viele transgeschlechtliche Personen entwickeln bereits als Kleinkind ein Gefühl für die eigene geschlechtliche Identität. Andere erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter. Auch ein inneres Coming-Out (d.h. eine Anerkennung der eigenen sexuellen Orientierung sich selbst gegenüber) als homosexuell oder bisexuell kann bereits als jugendliche Person erfolgen, aber auch zu jedem späteren Zeitpunkt im Leben.
Beim (erstmaligen) Einsatz einer Sprachmittlung ist es wichtig, in einem kurzen Vorgespräch LSBTI* zu thematisieren und sicherzustellen, dass sie damit keine Berührungsängste oder selbst Vorurteile hat und das relevante wertschätzendes Vokabular kennt.
Vernetzen Sie sich mit community-basierten Fachstellen für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, vor allem mit solchen, die Erfahrung im Arbeitsbereich Flucht/Migration haben, mehrsprachig arbeiten und auch selbst psychosoziale und/oder aufenthaltsrechtliche Beratung anbieten. Halten Sie mehrsprachiges Informationsmaterial zum Asylverfahren für LSBTI* bereit und weisen Sie Klient*innen auch auf nicht textbasiertes Informationsmaterial hin. Machen Sie sich mit dem jeweils geltenden Landesgewaltschutzkonzept vertraut und stellen Sie den Kontakt zu den Gewaltschutzkoordinator*innen für Ihr Bundesland her. Wenn es ein Gewaltschutzkonzept in Ihrer Unterkunft gibt, sollten Sie dieses kennen und bei der Umsetzung bzw. Weiterentwicklung mitwirken. Gibt es kein Gewaltschutzkonzept, sollten Sie in Zusammenarbeit mit beispielsweise den Gewaltschutzkoordinator*innen daran arbeiten, dass ein solches entwickelt wird.
WICHTIGES INFORMATIONSMATERIAL
Überblick zu Beratungsangeboten sowie Handreichungen / Plakate zum Bestellen: Queer Refugees Deutschland (LSVD e.V.)
LSVD (2020). Leitfaden für die Praxis. LSBTI*-sensibler Gewaltschutz für Geflüchtete. (offizieller Praxisleitfaden zum Annex 1 der Mindeststandards zum Schutz geflüchteter Menschen in Flüchtlingsunterkünften)
LSVD (2019). Asylrecht für geflüchtete Lesben und Schwule.
Themenschwerpunkt aus dem Asylmagazin 7–8 / 2021. Sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität als Fluchtgrund.
Ratgeber für geflüchtete trans Personen auf verschiedenen Sprachen unter: https://rubicon-koeln.de/publikationen/
Schwulenberatung Berlin. Sprachmittlung für lesbische, schwule, bi-sexuelle, trans* und inter* Geflüchtete.
Informationen zu LSBTI*, auch spezifisch zum Thema Geflüchtete und Suchmaschine für spezifische, auch regionale Anlaufstellen und Beratungsangebote: https://www.regenbogenportal.de/