Menschen mit psychischen Erkrankungen

Die Begriffe Trauma, Traumafolgestörung, Posttraumatische Belastungsstörung werden in der Diskussion um Schutzsuchende häufig verwendet, dabei aber nicht immer klar voneinander abgegrenzt. Ein Trauma ist definiert als “ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde” (ICD-10). Viele Schutzsuchende haben solche Ereignisse in ihren Herkunftsländern und/oder auf der Flucht überlebt, befanden sich in lebensbedrohlichen Situationen oder haben den Tod oder die schwere Misshandlung von nahen Bezugspersonen miterlebt. Als Reaktion auf ein traumatisches Ereignis kann sich eine psychische Erkrankung, eine sogenannte Traumafolgestörung, entwickeln. Dies passiert jedoch nicht zwingend in jedem Fall, sondern hängt unter anderem von den innerpsychischen Ressourcen und äußeren Faktoren ab, die die Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen beeinflussen. Da Kontextfaktoren bei der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse eine große Rolle spielen, ist eine Unterstützung beim Ankommen in Deutschland, eine sichere Aufenthaltsperspektive und eine bedarfsgerechte Unterbringung von besonders großer Bedeutung für die psychische Gesundheit Schutzsuchender.

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine mögliche Traumafolgestörung, die mit spezifischen Symptomen eihergeht.

Typische Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) sind:

  • Übererregung, Anspannung, Nervosität, Schreckhaftigkeit, Gereiztheit, Wut, Aggression, Konzentrationsschwierigkeiten
  • Wiedererlebens der Erlebnisse in Form von Bildern, Alpträumen, Flashbacks, in denen Betroffene das Gefühl haben, wieder in der traumatischen Situation zu sein
  • Vermeidungssymptome, z.B. nicht daran denken/darüber sprechen wollen, Vermeidung bestimmter Situationen, die an das Ereignis erinnern
  • Dissoziation (dabei ist die betreffende Person wie nicht mehr geistig anwesend,
    nicht ansprechbar, mental “woanders”, er lebt ihr Umfeld nicht mehr bewusst), häufig in Reaktion auf Trigger, d. H. Reize, die an das traumatische Ereignis erinnern

Andere häufige Traumafolgen sind:

  • depressive Episoden (sozialer Rückzug,Traurigkeit, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, suizidale Gedanken)
  • Dissoziationen (Person steht wie nebensich, reagiert nicht auf Ansprache, fühltsich nicht mehr in ihrem Körper, nicht mehrwirklich anwesend)
  • Ängste und Panik
  • Suchterkrankungen (Konsum von Alkoholoder anderer Drogen, häufig um emotionale Zustände zu beeinflussen; Hinweiseauf Sucht sind dabei unbezwingbaresVerlangen; Tendenz zur Dosissteigerung;psychische (und physische) Abhängigkeit, Schädlichkeit für die betroffene Personund/oder die Umgebung, Kontrollverlustüber das eigene Verhalten)
  • somatoforme Störungen (körperliche Symptome, bei denen körperliche Ursachenausgeschlossen sind)
  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen
  • immunologische Erkrankunge (beispielsweise Asthma, Gelenkentzündungen, Ekzeme)

(SCHUTZ-)BEDARFE

BEHANDLUNG

Bei Personen mit schweren psychischen Erkrankungen muss zunächst die notwendige medizinische und psychotherapeutische Versorgung sichergestellt werden, damit eine Chronifizierung der psychischen Erkrankung vermieden wird. Hier hat die Bundesregierung klargestellt, dass auch in den ersten 36 Monaten der eingeschränkten medizinischen Versorgung Schutzsuchende unter anderem einen Anspruch auf psychotherapeutische Behandlung haben, wenn sie zur Gruppe der besonders Schutzbedürftigen gehören. Das behördliche Ermessen in § 6 Absatz 1 AsylbLG für die von der Aufnahmerichtlinie erfassten Fallgruppen sei aufgrund europarechtskonformer Auslegung seit Ablauf der Umsetzungsfrist auf null reduziert (Deutscher Bundestag, 2016; Drs. 18/9009). Die Behörde hat also kein Ermessen mehr psychotherapeutische Behandlungen mit Verweis auf die eingeschränkte Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz abzulehnen, wenn es sich um besonders schutzbedürftige Geflüchtete handelt. Bei akuten Krisen (Suizidalität, Drogenmissbrauch, Psychose) sollten Sie die Person in eine Klinik begleiten oder für eine Begleitung durch Angehörige sorgen (siehe Umgang mit Suizidalität).
Um eine effektive Behandlung sicherzustellen, muss außerdem bei der Verteilung aus den Erstaufnahmeeinrichtungen in Gemeinschaftsunterkünfte der Kommunen berücksichtigt werden, dass bei einem Bedarf an therapeutischer Versorgung therapeutische Angebote erreichbar sind. Bei einer bereits bestehenden Anbindung an psychiatrische oder therapeutische Behandlung kann eine Stellungnahme der behandelnden Person herangezogen werden, um eine entsprechende kommunale Zuweisung oder Umverteilung einzufordern.

UNTERBRINGUNG

Mögliche Bedarfe Schutzsuchender mit psychischen Erkrankungen und Folterüberlebenden können sich außerdem auf eine bedarfsgerechte Unterbringung beziehen. Beengte räumliche Bedingungen und fehlende Privatsphäre können die Symptome von Traumafolgestörungen verstärken, da sie das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle über die eigene Lebenssituation weiter einschränken. Eine Unterbringung im Einzelzimmer ist daher unbedingt anzustreben.
Steht diese nicht zur Verfügung, sollte der betroffenen Person bis zu einer Verlegung in eine geeignetere Unterbringungseinrichtung ein Mehrbettzimmer angeboten werden, das zumindest rudimentäre Rückzugsmöglichkeiten bietet (z. B. durch Raumteiler). Zu allen Tages- und Nachtzeiten muss die Möglichkeit gewährleistet sein, den Raum von innen abzuschließen.
In der Aufnahmeeinrichtung sollten weitere Rückzugsmöglichkeiten zur Verfügung stehen (z.B. durch Ruheräume). Wichtig ist auch, dass die schutzsuchende Person angstfrei die Sanitär- und Waschräume nutzen kann. Achten Sie hier auf die Ansprache möglicher Schwierigkeiten und Ängste.

ASYLVERFAHREN

Im Asylverfahren gibt es für Schutzsuchende mit Traumafolgen das Recht auf bestimmte Verfahrensgarantien. Im Rahmen der Anhörung gibt es zum einen die Möglichkeit, bei geschlechtsspezifischer Verfolgung eine weibliche anhörende Entscheiderin sowie eine weibliche Sprachmittlung anzufordern.
Außerdem gibt es Sonderbeauftragte des BAMF, die speziell dafür geschult sind, Anhörungen mit traumatisierten Menschen durchzuführen und ihre Anträge zu bescheiden. Dies soll zum einen eine Retraumatisierung im Rahmen der Anhörung verhindern. Zum anderen gehen beispielsweise mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oft Erinnerungsstörungen einher, die es Menschen erschweren, chronologisch und detailliert von den erlebten traumatischen Erfahrungen zu berichten. Diese Kriterien werden jedoch in der Regel angelegt, um zu entscheiden, ob ein Vortrag als glaubwürdig einzuschätzen ist. Sonderbeauftragte sollten mit der Symptomatik einer PTBS vertraut sein und dieses Wissen in die Glaubwürdigkeitsprüfung miteinbeziehen. Ähnliche Schwierigkeiten treten auch beispielsweise bei psychotischen Schutzsuchenden auf, deren Schilderungen häufig schwer nachvollziehbar wirken, woraus jedoch nicht geschlussfolgert werden kann, dass sie bewusst täuschen oder keine Fluchtgründe vorzubringen hätten. In manchen Fällen ist es möglich, die Anhörung auf ein späteres Datum zu verschieben, um der schutzsuchenden Person mehr Zeit für eine psychische Stabilisierung einzuräumen.
Außerdem sollten in den Fällen, in denen die Erkrankung aufenthaltsrechtlich relevant ist, Stellungnahmen bzw. Gutachten bezüglich einer psychischen Erkrankung eingebracht werden. Dies ist der Fall, wenn eine Abschiebung zu einer so massiven Verschlechterung des Zustands der Person führen könnte, sodass diese suizidal würde.

IDENTIFIZIERUNG, SENSIBLE ANSPRACHE UND UMGANG

Da ein großer Anteil der Geflüchteten, die in die Beratung kommen, potentiell traumatische Erfahrungen gemacht hat und viele unter psychischen Erkrankungen leiden, sollten Sie Hinweise auf eine Traumatisierung frühzeitig erkennen und dementsprechend sensibel damit umgehen. Diese können sich zum einen aus Erzählungen von Klient*innen ergeben, die von lebensbedrohlichen Situationen für sie selber oder für andere berichten, die sie miterlebt haben (z. B. der gewaltsame Verlust von Bezugspersonen). Nicht jedes potentiell traumatisierende Ereignis führt jedoch zu einer Traumafolgestörung, also einer psychischen Erkrankung. Die tatsächliche Diagnostik einer psychischen Erkrankung sollte von Fachpersonal (Psychiater*in, Psychologische Psychotherapeut*in) durchgeführt werden. Viele Symptome psychischer Erkrankungen zeigen sich jedoch bereits in einem aufmerksamen Gespräch.

Hinweise und Indikatoren für eine mögliche psychische Belastung:

  • schlimme Erlebnisse (Gewalt) –auch Miterleben als Beobachter*in
  • Verlust Angehöriger (im Herkunftsland oderauf der Flucht)
  • anhaltende Schlafstörungen, AlbträumeHören von Stimmen (kann sowohl Hinweisauf psychotische Erkrankung sein oder Intrusion)
  • Intrusionen (durch einen Schlüsselreiz(Trigger) unkontrollierbar ins Bewusstseindrängende Erinnerung an traumatischeEreignisse und Wiedererleben der damitverbundenen Gefühle). Flashbacks sindeine besonders heftige Form der Intrusion,in denen Betroffene die traumatische Situation nochmals mit allen Sinneseindrückendurchleben, als würde sie gerade erneutstattfinden. Insbesondere in Sammelunterkünften bestehen viele mögliche Trigger,die Intrusionen auslösen und zu großemLeid führen können
  • Ängste bzw. Angstzustände(auch beispielsweise Angst davor, verrücktzu werden)
  • Nervosität oder Ruhelosigkeit(starke innere Unruhe), Schreckhaftigkeit
  • Konzentrationsschwierigkeiten
  • Verwirrtheit; die ratsuchende Person kannnicht sagen, wer sie selbst ist, wo und zuwelcher Zeit sie sich befindet
  • Vergesslichkeit
  • Schwierigkeiten, den Alltag ohne fremdeHilfe zu bestreiten
  • Reizbarkeit und Aggressivität (auch gegen sich selbst)
  • Zwanghaftes Verhalten, Rituale, die von außen nicht nachvollziehbar wirken (z. B. Haare ausreißen, mehrere Versuche, eine Türschwelle zu übertreten, damit es “richtig” passiert)
  • Auffällige emotionale Erregbarkeit im Gesprächsverlauf
  • Apathie und geistige Abwesenheit und deutliche Schwierigkeiten, dem Gespräch zu folgen
  • Traurigkeit, Antriebslosigkeit, Person verlässt nicht das Haus/Bett
  • Suizidgedanken oder -versuche in der Vergangenheit
  • Hinweise auf geringe Nahrungs- und Getränkeaufnahme
  • Person scheint unter Alkohol-, Drogen- oder Medikamenteneinfluss zu stehen
  • regelmäßige körperliche Beschwerden, insbesondere Kopfschmerzen, Schmerzen am ganzen Körper, Schwindel, Magen-Darm-Probleme
  • Überforderung und Überlastung von Kindern (Parentifizierung – wenn Kinder sich nicht altersgerecht wie Erwachsene verhalten, um sich um ihre Eltern zu kümmern, wobei ihre eigenen Bedürfnisse dabei zurückgestellt werden)
  • Bei Kindern: nicht altersgerechtes Einnässen oder Einkoten, auffällig sexualisiertes Verhalten, distanzloses Verhalten, Essstörung, Wahrnehmungs- und Entwicklungsstörungen

Gerade für Traumaüberlebende ist es wichtig, soweit wie möglich ein Gefühl von Kontrolle über die eigene Situation zu haben, da Trauma mit einem Gefühl von Kontrollverlust und Hilflosigkeit verknüpft ist. Wenn die räumliche Situation es ermöglicht, geben Sie der ratsuchenden Person die Wahl, wo sie sitzen möchte, und die Möglichkeit, den Abstand zu Ihnen zu jedem Zeitpunkt im Gespräch zu verändern. Erklären Sie genau, was Sie machen und weshalb. Lassen Sie keine unnötig langen Pausen im Gespräch aufkommen, da diese Verunsicherung hervorrufen können. Bohren Sie nicht nach, wenn die Person über etwas nicht sprechen möchte. Bieten Sie stattdessen an, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal darauf einzugehen.

Viele Schutzsuchende können ihre eigenen Traumafolgen nur schwer einordnen und haben Angst, “verrückt” zu werden, was wiederum mit Scham verbunden ist. Nutzen Sie Psychoedukation, um die ratsuchende Person zu entlasten: Erklären Sie, dass eine Traumafolgestörung eine normale Reaktion auf ein unnormales Ereignis ist, und dass seelische Verletzungen sich auch in körperlichen Beschwerden niederschlagen können. Erklären Sie Betroffenen, dass es auch anderen Menschen so geht wie ihnen, dass sie nicht allein sind und es sowohl kurzfristige als auch langfristige Behandlungsmöglichkeiten gibt. Wecken Sie Hoffnung, aber keine unrealistischen Erwartungen. Beachten Sie, dass mit der Vorstellung psychischer Erkrankungen oft (auch in Deutschland) Stigmatisierung und Scham einhergeht. Betroffene beschreiben ihre Situation oft mit weniger stigmatisierenden Worten wie “Stress”. Greifen Sie diese Wortwahl auf.

Wenn die schutzsuchende Person stark emotional erregt oder im Gespräch nicht mehr richtig “anwesend” ist (dissoziiert), nutzen Sie einfache Interventionstechniken, um ihr eine Rückkehr in die gegenwärtige Beratungssituation zu erleichtern. Sprechen Sie die Person mit Ihrem Namen an. Bitten Sie sie, sich auf das Hier und Jetzt im Raum zu konzentrieren. Fordern Sie Ihr Gegenüber auf aufzustehen, aufzustampfen, sich zu strecken, die Hände fest aneinander zu reiben, Arme und Beine zu schwingen oder abzuklopfen. Wenn Sie Igelbälle haben, bieten Sie diese Ihrem Gegenüber an. Lassen Sie sich die Umgebung beschreiben, zum Beispiel mithilfe der 5-4-3-2-1 Übung. Das Bereitstellen von heißen/kalten Getränken oder Bonbons kann helfen – auch schon zu Beginn der Beratung. Klären Sie beim Auftreten solcher Symptome psychiatrische und psychologische Behandlungsmöglichkeiten.

HANDLUNGSEMPFEHLUNG

Wenn Sie keine therapeutische Aus-oder Weiterbildung haben, belegen Sie Fortbildungen zu Trauma, um eine Sicherheit im Umgang mit psychischen Zusammenbrüchen, Suizidalität und anderen Ausnahmesituationen zu erlangen. Haben Sie einen Notfallplan für den Umgang mit Suizidalität mit allen notwendigen Telefonnummern.40 Sie sollten die nächstgelegene psychiatrische Klinik mit einer Rettungsstelle kennen. Stellen Sie Kontakt zu einem Psychosozialen Zentrum (PSZ) in Ihrer Nähe41 und einer Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) her und erkundigen sich bei letzterer in welchen Sprachen Behandlungen stattfinden können. Nehmen Sie Kontakt zum sozialpsychiatrischen Dienst (SPDI) auf und bringen Sie in Erfahrung, unter welchen Voraussetzungen dieser geflüchtete Personen unterstützt.

WICHTIGES INFORMATIONSMATERIALINFORMATIONSMATERIAL

BAfF (2017). Traumasensibler und empowernder Umgang mit Geflüchteten. Ein Praxisleitfaden.
Psychosoziale Zentren in Ihrer Nähe unter: www.baff-zentren.org/hilfe-vor-ort/psychosoziale-zentren/