Besondere Schutzbedürftigkeit ist ein rechtlich verankertes Konzept. Insbesondere auf europäischer Ebene finden sich Regelungen, die notwendige und spezifische Verfahrens- und Aufnahmegarantien festsetzen, um allen Menschen einen möglichst effektiven und gleichwertigen Zugang zum Asylverfahren zu gewährleisten.
Grundlage dessen ist das Recht, Schutz vor Krieg, Verfolgung und Folter zu erhalten, und nicht in eine Situation abgeschoben zu werden, wo schwere Menschenrechtsverletzungen drohen (vgl. Artikel 16a Grundgesetz, EU-Grundrechtecharta, Europäische Menschrechtskonvention, Genfer Flüchtlingskonvention). Zugleich als Anspruch und Verpflichtung begründet sich hieraus das Recht auf Zugang zu einem rechtsstaatlichen, fairen Asylverfahren und der Prüfung der individuellen Fluchtgeschichte.
Daneben haben sich Staaten gegenüber bestimmten Personengruppen in internationalen Konventionen besonders verpflichtet, wie z.B. durch die UN-Kinderrechtskonvention, die UN-Behindertenrechtskonvention, die UN-Frauenrechtskonvention oder die Konvention gegen Menschenhandel.
Seit Anfang der Nullerjahre bildet das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) den Rahmen der europäischen Migrationspolitik. Ein Bündel an Richtlinien und Verordnungen sollte die Standards für Asylverfahren, Unterbringung und Versorgung von Asylsuchenden europaweit vereinheitlichen und legte fest, welche Rechte die EU-Mitgliedstaaten Schutzsuchenden gewähren müssen. Die europarechtlichen Regelungen führten jedoch durch die Verantwortungsverlagerung an die EU-Außengrenzen zu dysfunktionalen Asylsystemen und erheblichen Menschenrechtsverletzungen (Pichl, 2024).
Im Mai 2024 stimmte das Europäische Parlament für eine Reform des GEAS. Das Maßnahmenpaket, bestehend aus neun Verordnungen und einer Richtlinie, wird ab Juni 2026 in Kraft treten. Auch wenn EU-Verordnungen, anders als EU-Richtlinien, für eine Anpassung an nationales Recht von den EU-Mitgliedstaaten nicht umgesetzt werden müssen sondern direkt gelten, bleibt auf nationaler Ebene ein weiter Ausgestaltungsspielraum. Welche Auswirkungen diese Regelungen konkret haben werden, lässt sich somit derzeit nur schwer abschätzen. Da immense Einschnitte in Bewegungsfreiheit und Verfahrensgarantien vorgesehen sind und menschenrechtliche Standards unterschritten werden, könnte sich die Situation von Menschen auf der Flucht und im Asylverfahren in Deutschland deutlich verschärfen.
Die Richtlinie 2013/33/EU (EU-Aufnahmerichtlinie) definiert Mindestanforderungen, die die EU-Mitgliedstaaten bei der Aufnahme und Unterbringung von Menschen im Asylverfahren einhalten müssen. Die EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen zu berücksichtigen. Die Richtlinie nennt dabei in nicht abschließender Aufzählung Personengruppen, die als Antragsteller*innen mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme bzw. als schutzbedürftige Personen bezeichnet werden. Umfasst sind beispielsweise (unbegleitete) Minderjährige, Menschen mit Behinderungen, ältere Menschen, Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer von Menschenhandel, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, wie zum Beispiel Betroffene von weiblicher Genitalverstümmelung. (Art. 21 und 22 EU-Aufnahmerichtlinie)
Darüber hinaus legt die EU-Aufnahmerichtlinie fest, dass jeder EU-Mitgliedsstaat besondere Schutzbedürftigkeit feststellen und sicherstellen muss, dass Schutzsuchende während der gesamten Dauer des Asylverfahrens Unterstützung entsprechend ihrer besonderen Bedarfe erhalten (Art. 22 EU-Aufnahmerichtlinie). So haben Personen mit besonderen Bedürfnissen beispielsweise nach Art. 19 EU-Aufnahmerichtlinie das Recht auf erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe, einschließlich erforderlichenfalls einer geeigneten psychologischen Betreuung. Konkrete Vorgaben, wie den besonderen Bedarfen Rechnung getragen werden soll, finden sich für Minderjährige, unbegleitete Minderjährige und Überlebende von Folter und Gewalt (Art. 23 bis 25 Aufnahmerichtlinie).
Die im Jahr 2013 verabschiedete EU-Aufnahmerichtlinie hätte Deutschland bis Juli 2015 in nationales Recht umsetzen müssen. Das ist nicht geschehen. Lediglich in § 44 Absatz 2a AsylG wurde festgelegt, dass die Bundesländer geeignete Maßnahmen treffen sollen, um bei der Unterbringung von Asylsuchenden in Erstaufnahmeeinrichtungen den Schutz von Frauen und schutzbedürftigen Personen zu gewährleisten. Entsprechendes gilt auch bei der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften (§ 53 Absatz 3 AsylG). Damit werden die Verpflichtungen gemäß der Aufnahmerichtlinie in Bezug auf die Unterbringung klargestellt, ohne jedoch die erforderlichen Maßnahmen weiter zu konkretisieren. Im Zuge der europarechtsfreundlichen Auslegung entfaltet die EU-Aufnahmerichtlinie darüber hinaus Wirkung im nationalen Recht. Jedoch kann allein ein gesetzlich verankertes flächendeckendes, frühzeitiges und systematisches Identifizierungsverfahren sowie an eine mögliche Identifizierung anknüpfende Versorgungsansprüche eine zuverlässige Anwendung der europarechtlichen Vorgaben und damit Rechtssicherheit gewährleisten.
Mit der GEAS-Reform wurde auch eine Neufassung der EU-Aufnahmerichtlinie beschlossen. Die Richtlinie (EU) 2024/1346 (EU-Aufnahmerichtlinie neue Fassung (n.F.)) muss Deutschland bis zum 11. Juni 2026 umsetzen. Weiterhin gilt, dass die spezielle Situation von Antragstellenden mit besonderen Bedürfnissen bei der Aufnahme zu berücksichtigen ist (Art. 24 EU-Aufnahmerichtlinie n.F.). Die Neufassung erweitert ferner die besonders schutzbedürftigen Personengruppen (Art. 24 EU-Aufnahmerichtlinie n.F.) und macht weitere Vorgaben hinsichtlich der medizinischen Versorgung (Art. 22 EU-Aufnahmerichtlinie n.F.), des Feststellungsverfahren besonderer Bedarfe, sowie der Fachexpertise des eingesetzten Personals (vgl. Art. 25, Artikel 28 Absatz 2 und Artikel 33 EU-Aufnahmerichtlinie n.F.). Der deutsche Gesetzgeber sollte nun die Chance nutzen, durch zeitnahe Umsetzung der europäischen Verpflichtungen eine menschenwürdige Aufnahme und Versorgung für alle Menschen zu gewährleisten und ein faires Asylverfahren zu garantieren.