Zu Menschen mit Behinderungen zählen laut Artikel 1 des UN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN- Behindertenrechtskonvention, UN-BRK) Menschen, „die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“. Die UN-BRK verpflichtet staatliche Stellen auf allen Ebenen, diese Barrieren abzubauen und die Rechte von Menschen mit Behinderung zu achten und schützen. Diese Verpflichtung gilt auch gegenüber flüchtenden Menschen.
Die Bedarfe von Menschen mit Behinderungen sind je nach Art und Grad der Behinderungen sowie individuell unterschiedlich, dasselbe gilt auch für die Barrieren. Was Menschen mit Behinderungen gemein haben, ist ein erhöhtes Risiko, von Diskriminierung, Ausbeutung und Gewalt betroffen zu sein – und dies vor allem in Not- und Krisensituationen.
Damit sie ihre Rechte einfordern können, muss der Zugang zu Informationsmaterialien, Beratungsstellen und Schutzeinrichtungen sowie zu Unterstützungsangeboten barrierefrei und bedarfsgerecht sein.
MÖGLICHE BESONDERE (SCHUTZ-)BEDARFE
Ein grundlegender Punkt ist die bedarfsgerechte, barrierearme Unterbringung in möglichst kleinen Wohneinheiten und ein möglichst barrierefreier Zugang zu allen relevanten Räumlichkeiten wie z. B. Sanitäranlagen, Speisesaal, Küche, Beratungsangeboten, Schutzraum, Räume, in denen Bildungs- und Freizeitangebote für Kinder stattfinden, Krankenstation, Gemeinschaftsbereichen und Rettungswegen. Zentrale räumliche Anpassungen umfassen z.B. Blindenleitsysteme, Lichtklingeln, Piktogramme für Beschilderungen, automatische Türöffner und Aufzüge für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen. Im Übrigen sollten auch alle Informationen barrierearm verfügbar sein. D.h. dass sie in einfacher Sprache, in Brailleschrift und nicht-text basiert zur Verfügung gestellt werden sollten.
Hier ist zwischen Leichter und einfacher Sprache zu unterscheiden. Leichte Sprache soll Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen den Zugang zu Informationen und Kommunikation erleichtern. Sie ist der Versuch, schriftliche Informationen auf einem möglichst einfachen, niedrigschwelligen Niveau zu transportieren. Für die Leichte Sprache z. B. gibt es diverse Regeln, wie etwa die Nutzung kurzer Hauptsätze und die Verwendung einfacher, bekannter Wörter (siehe ). Da es Leichte Sprache in den am weitesten verbreiteten Herkunftsstaaten von Schutzsuchenden nicht gibt, sollte einfache Sprache genutzt werden. Das Konzept von einfacher Sprache beinhaltet die sprachliche Abänderung eines Textes, sodass er leichter zu lesen ist. Texte in Leichter und einfacher Sprache sind für viele Menschen hilfreich, etwa für Menschen mit Lese- und Rechtschreibschwäche, Menschen mit Lernbehinderung und Lernende einer Fremdsprache.
Bei der einrichtungsweiten Planung von Sprachmittlung sollte Gebärdensprachdolmetschung immer mitgedacht werden. Barrierefreiheit allein genügt zudem nicht: Autist*innen etwa sind in der Regel in großen, lauten Einrichtungen nicht bedarfsgerecht untergebracht – ebenso wenig wie Menschen, die aufgrund ihrer gesundheitlichen Situation eine spezielle Ernährung benötigen.
TEILHABELEISTUNGEN, PFLEGELEISTUNGEN UND HEIL- UND HILFSMITTEL
Schutzsuchende mit Behinderungen haben vor dem Hintergrund des Grundgesetzes in Verbindung mit der UN-BRK Anspruch auf Heil- und Hilfsmittel, sowie Pflege- und Teilhabeleistungen, die für ihre Teilhabe, Autonomie und Gesundheit unerlässlich sind. Welche Ansprüche jeweils geltend gemacht werden können, hängt dabei vom Aufenthaltstitel und von der Dauer des Aufenthalts in Deutschland ab. Für mehr Informationen siehe 4.3 Gesundheitliche Bedarfe (physisch und psychisch).
ASYLVERFAHREN
Im Asylverfahren sind ebenfalls mehrere Aspekte zu berücksichtigen. Zunächst muss es der asylsuchenden Person ermöglicht werden, ihre Mitwirkungspflichten im Asylverfahren zu erfüllen und ihre Rechte als Asylantragstellende effektiv wahrzunehmen. Dazu braucht es einen barrierefreien Zugang zu notwendigen Informationen und Beratung zum Verfahren und dem Sachstand des Asylantrags – genauso wie zu Rechten und Pflichten der Asylantragstellenden. Dazu gehört ein barrierearmer Zugang und barrierearme Kommunikation in der Anhörung. Zugleich sollte im Rahmen der Anhörung (und der Vorbereitung darauf durch eine unabhängige, entsprechend geschulte Verfahrensberatung) behinderungsspezifische Verfolgung sowie die spezifische Lebenssituation von Menschen mit Behinderung, u.a. die behinderungsspezifische Versorgungssituation im Heimatland und Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe, geprüft werden. Auch das Beibringen entsprechender Atteste ebenso wie die Feststellung des Behinderungsgrads können für die Bestimmung des Schutzstatus essenziell sein.
GEWALTSCHUTZ
Für die Gewährleistung geeigneter Gewaltschutzmaßnahmen ist es wichtig, nach Stigmatisierung, Diskriminierung und Ausgrenzung (in der Unterkunft und im Kontakt mit Ämtern/Behörden) zu fragen. Geflüchtete Frauen und Mädchen mit Behinderungen sind besonders von Gewalt in jeglicher Form betroffen, häufig durch Personen im näheren Umfeld (Partner*in, Familie, Unterstützer*innen), aber auch durch fremde Personen. Wenn die asylsuchende Person die Beratungsstelle in Begleitung aufsucht, ist es daher wichtig sicherzustellen, dass sie auch die Möglichkeit hat, das Beratungsgespräch allein zu führen.
IDENTIFIZIERUNG, SENSIBLE ANSPRACHE UND UMGANG
Behinderungen sind häufig mit Stigmatisierung verbunden, Rat- und Schutzsuchende haben in vielen Fällen daran anknüpfende Diskriminierung oder Ausschluss erfahren. Nutzen Sie anstelle von “Behinderte” die Ausdrücke “Menschen mit Behinderung(en)” oder, falls von der Person eine andere Bezeichnung bevorzugt wird, z.B. “behinderte Menschen”. Auch für die sachliche Verständigung kann es hilfreich sein, nicht nach Behinderungen, sondern nach funktionalen Einschränkungen zu fragen (z. B. “Haben Sie Schwierigkeiten zu hören?”). Zur ersten Erfassung möglicher Beeinträchtigungen nutzen Sie die sogenannten Washington Group Questions (WGQ), anhand derer abgefragt werden kann, ob eine Person Schwierigkeiten bei grundlegenden alltäglichen Aktivitäten, etwa beim Gehen, Sehen, Hören, Verstehen, in der Selbstversorgung oder der Kommunikation, hat. Gemeinsam mit Unicef wurde zudem ein altersgerechter Fragebogen für Kinder und ihre Erziehungsberechtigten erstellt.
Sprechen Sie immer direkt mit der ratsuchenden Person, auch wenn diese von einer*m Unterstützer*in begleitet oder einer Sprachmittlung unterstützt wird. Gehen Sie nicht davon aus, dass sie einer Person ihre Beeinträchtigung(en) ansehen können, sondern fragen Sie danach. Passen Sie die Beratungsumgebung an die Bedarfe der ratsuchenden Person an.
PERSONEN MIT PHYSISCHEN BEEINTRÄCHTIGUNGEN:
Wenn die ratsuchende Person im Rollstuhl sitzt, achten Sie darauf, dass Sie auf gleicher Höhe sitzen, damit sie nicht zu Ihnen hochschauen muss. Wenn im Beratungssetting ein Tisch eingesetzt wird, sollte er höhenverstellbar sein. Berühren Sie nicht den Rollstuhl oder andere Hilfsmittel einer Person ohne deren Aufforderung oder Zustimmung. Achten Sie darauf, dass ausreichend Platz im Beratungsraum ist, damit ein Rollstuhl darin navigiert werden kann. Achten Sie darauf, dass alle vorgesehenen Hygienemaßnahmen auch für Personen mit eingeschränkter Mobilität zugänglich sind (z. B. beim Anbringen von Desinfektionsmittel-Spendern).
MENSCHEN MIT HÖRBEEINTRÄCHTIGUNGEN:
Nutzen Sie einen ruhigen, gut beleuchteten Raum und nehmen Sie bei Gehörlosigkeit eine*n Gebärdensprachdolmetscher*in in Anspruch, wenn dies nötig ist. Bei der Beauftragung einer Gebärdensprachdolmetscher*in muss beachtet werden, dass es nicht nur eine Gebärdensprache gibt. Zwar gibt es eine internationale Gebärdensprache (International Sign Language), aber sie ist nicht allen geläufig. Beim Bundesverband der GebärdensprachdolmetscherInnen finden Sie geeignete Gebärden(sprach)dolmetscher*innen in unterschiedlichen Sprachen. Achten Sie (wie immer beim Einsatz von Sprachmittlung) darauf, weiterhin direkt mit der ratsuchenden Person zu sprechen. Sprechen Sie langsam und deutlich, ohne laut zu werden. Machen Sie ausreichend Pausen. Nutzen Sie gegebenenfalls Hilfsmittel oder schreiben Sie Ihre Fragen auf.
MENSCHEN MIT SEHBEEINTRÄCHTIGUNGEN:
Benutzen Sie den Namen der ratsuchenden Person, wenn Sie mit ihr sprechen, damit klar ist, dass sie angesprochen ist. Sprechen Sie direkt zu der Person in einem normalen Tonfall. Machen Sie sprachlich deutlich, wenn die Beratung beginnt und wenn sie beendet ist. Berühren Sie die Person nicht, ohne zu fragen, auch nicht, um ihr zu helfen. Sie können jedoch Unterstützung anbieten, insbesondere, wenn die Person zum ersten Mal in der Beratung ist, um ihr die Orientierung in der neuen Umgebung zu erleichtern. Abseits des Beratungszimmers kann die Informationsvermittlung niedrigschwellig gestaltet werden, indem durch Bildschirmlesehilfen zugängliche Online-Ressourcen und möglichst barrierefreie Apps genutzt werden.
MENSCHEN MIT SPRACHBEEINTRÄCHTIGUNGEN:
Sprechen Sie langsam und deutlich, aber in ganzen Sätzen und in einer normalen Lautstärke. Seien Sie darauf vorbereitet, Fragen ggfs. zu wiederholen. Ergänzen Sie keine Sätze für die Personen oder legen ihr Worte in den Mund. Fragen Sie nach, wenn Sie etwas nicht verstanden haben, damit die Person es Ihnen noch einmal erklären kann. Gehen Sie nicht davon aus, dass Sprachbeeinträchtigungen mit kognitiven Beeinträchtigungen ein- hergehen. Lassen Sie die ratsuchende Person wissen, dass ausreichend Zeit für die Beratung bleibt, auch wenn die Verständigung länger dauert. Lassen Sie sich von verbalen Ticks o. ä. nicht ablenken.
MENSCHEN MIT KOGNITIVEN BEEINTRÄCHTIGUNGEN:
Nehmen Sie sich die Zeit, sicherzustellen, dass die ratsuchende Person Sie versteht. Wieder- holen Sie möglicherweise Fragen, seien Sie geduldig und respektvoll, lassen Sie Ihrem Gegenüber ausreichend Zeit zu antworten. Hören Sie darauf, was die Person sagt, nicht wie sie es sagt. Bevormunden Sie die ratsuchende Person nicht, sondern behandeln Sie sie als Expert*in für ihre Bedürfnisse. Orientieren Sie sich an den Regeln der Leichten Sprache. Ist die Person in Begleitung erschienen, stellen Sie sicher, dass die Auftragsklärung sowie alle weiteren Absprachen mit der ratsuchenden Person mit Behinderung gemeinsam erfolgen, nicht mit der Begleitperson.
MENSCHEN MIT SEELISCHEN BEEINTRÄCHTIGUNGEN
Bauen Sie Kontakte zu Fachstellen für Geflüchtete mit Behinderungen auf oder (da diese nur in einigen Kommunen existieren) hilfsweise mit Fachstellen der Behindertenhilfe, z.B. der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (https://www.teilhabeberatung.de/) (EUTB). Überprüfen Sie Ihren Beratungsraum, die Einrichtung und die Zugangswege auf mögliche Barrieren und setzen Sie sich dafür ein, diese abzubauen. Sie können sich dafür auch von einer Selbstorganisation von Menschen mit Behinderungen vor Ort unterstützen lassen. Gehen Sie dazu auch ins Gespräch mit Ihren Kolleg*innen und unterstützen sie beim Abbau von Barrieren. Beschaffen Sie sich barrierearmes Informationsmaterial. Für ein Screening nach Anzeichen auf Beeinträchtigungen nutzen Sie die WGQ.
WICHTIGES INFORMATIONSMATERIAL
Aktuelle Informationen, Arbeitshilfen und Downloadmaterialien für Fachkräfte an der Schnittstelle Flucht, Migration und Behinderung finden Sie auf der Webseite von Handicap International – Crossroads unter “Für Fachkräfte”. Hier finden Sie auch eine Übersicht über Beratungsstellen der Behindertenhilfe.
Washington Group on Disability Statistics (2020). The Washington Group Short Sets on Functioning (WGSS) in verschiedenen Sprachen.
RAA Brandenburg Demokratie und Integration Brandenburg e. V; Leitfaden für Geflüchtete mit Behinderungen